24.09.2024
„Es freut mich, dass ich als Kunsthistoriker ebenfalls einige Worte zu der beeindruckenden Skulptur von Julia Hansen sagen kann.
Julia Hansen ist eine ausgewiesene Bildhauerin und wurde 1976 in Schwerin geboren.
Ihre Skulptur trägt den Titel „Reigen“. Dabei handelt es sich um eine architektonische Plastik, die sowohl bildhauerische als auch architektonische Elemente enthält.
Die Skulptur erscheint hinsichtlich des Raumes geöffnet und sie ist begehbar.
Sie hat keine Ansichtsseite, wie dies etwa für klassische Skulpturen gilt; der Betrachter kann nicht nur um sie herumgehen, sondern er kann sie auch durchschreiten.
Vordergründig ist eine Betonkonstruktion zu erkennen, bestehend aus vier säulenartigen Stützen und jeweils darüber liegenden, leicht gebogenen Verbindungen.
Die Stelen sind vertikal und unterschiedlich gegliedert, oben mit unterschiedlichen kapitellartigen Abschlüssen versehen.
Hierin unterscheiden sich die Stelen von klassischen früheren Säulen bzw. Pfeilern, aber auch von Stützen einer bloß funktionalen Betonarchitektur.
Der Raum wirkt offen; Bezüge zu kleineren Tempeln, etwa dem „Tempel der Jugend“ von Johann Georg Barca von 1821 im Schlossgarten bieten sich an, wobei die Reigen-Konstruktion dezidiert modern und abstrakt wirkt.
Was die Skulptur von Julia Hansen darüber hinaus auszeichnet, ist, dass sie Blicke zum architektonischen Umfeld eröffnet, zum Schloss, zur Staatskanzlei und vor allem zur Brücke zwischen Staatskanzlei und Wissenschaftsministerium.
Insofern schließt sich die Plastik nicht ab, vielmehr werden durch sie Verbindungen zum Welterbeensemble hergestellt.
Zweifelsohne zeigt sich ein zeitgemäßes Denken in der Formensprache der Skulptur, die nicht den allgegenwärtigen Historismus der Architektur fortsetzt und sich durch Figurinen oder Verkleidungen bemerkbar macht. Es wird nichts verdeckt oder durch einen inszenierten Wandschmuck herausgehoben.
Julia Hansen hat ihrer Skulptur den Titel „Reigen“ gegeben, womit auf den gemeinsamen Tanz von Menschen nach Musik angespielt wird. Seit dem Mittelalter existieren Kreistänze, wobei der „Reigen“ symbolisch für die Freude des Menschen steht.
Er findet sich auf Bildern seit dem 17. Jahrhundert, etwa bei Nicola Poussin in Frankreich, später in der Moderne u. a. bei Pablo Picasso und Matisse.
Und Henri Matisse hat die wohl eindrucksvollsten Reigenbilder geschaffen, wozu La Bonheur de vivre/Lebensfreude von 1910 zählt. In seinem Reigen geht es um das Zugewandsein der Menschen um das Gemeinsame, Authentische und Wahrhaftige, dass Julia Hansen auch ihrerseits vermitteln möchte.
Ein weiterer Aspekt der Skulptur sei noch einmal angesprochen:
Es geht in ihr um die schon erwähnte Offenheit.
Von dem Soziologen Karl Rainer Popper stammt die 1937 erschiene Schrift: „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, ein Buch, dass er im Exil geschrieben hat.
Grundmerkmale der offenen Gesellschaft und des Selbstverständnisses moderner Demokratien beinhalten nach Popper:
– Die Bereitschaft Veränderungen und verschiedene Sichtweisen zu akzeptieren,
– Dogmen jedoch abzulehnen, die hinter scheinbaren Argumenten stehen und die Humanität verletzen
– und: politisches Handeln entwickelt sich in einem demokratischen Diskurs
Zurück zur Skulptur: Was wir gleichsam von ihr her bzw. mit ihr sehen, ist der Blick auf die zentralen demokratischen Institutionen unseres Gemeinwesens:
den Landtag, die Staatskanzlei, die Administration, somit Orte, die den offenen Diskurs voraussetzen.
Julia Hansens Skulptur steht nicht auf einem Sockel, sie verweist auf Transparenz; und:
Ihre Skulptur verneint jegliche Form einer anmaßenden Arroganz. Darin passt sie ausgesprochen gut zu unserer demokratischen Verfasstheit.“
Dr. Gerhard Graulich, Kunsthistoriker
Rede zur Einweihung der Plastik “Reigen”, 24.09.2024